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Geiss Haejm - Grundlagen meiner Philosophie des Augenmaßes


Lustvolle Mäßigkeit

Als Vortrag im Sommer 1982 in Frauenau auf der sogenannten "Sommerakademie" gehalten, im Dezember 82 in der "Baam-Post Nr. 1" abgedruckt und in kleiner Auflage beim VHS-Jahreskonzert in Zwiesel verkauft. Durchgesehen und überarbeitet im Sommer 1994.

1.

Der Mensch strebt nach dem Glück, sagt man. Mir scheint, er rennt seinem Schatten hinterher.

Doch Schatten passen sich bekanntlich jeder Geschwindigkeit an, man kann also grad so gut stehenbleiben. Daß einem der Schatten folgt, erreicht man nur durch die Änderung der Laufrichtung oder der Stellung zum Licht.

Nicht anders ist es mit dem, was man Glück nennt.

Heute redet man den Menschen ein, Glück wäre eine Ware und käuflich zu erwerben. Da das "Beute -machen" eine arttypische Eigenschaft ist und Dinge dem Augenwesen Mensch ohne weiteres imponieren, bedarf es keiner großen Überredungskunst. So häufen die Leute in einem fort Dinge an. Ich will auch nicht bestreiten, daß der Erwerb einer "Beute" etwas Lustvolles ist, vielleicht auch dann das anfängliche Umgehen mit ihr. Doch wenn die Sache nicht gerade ein unverzichtbares Werkzeug ist, oder abhängig macht oder den Leuten die Langeweile vertreibt, verliert sich sein Reiz schnell und das Ding verstaubt in einer Ecke, während sein Besitzer schon wieder hinter neuer Beute her ist.

Ohne Sammeln und Horten hätte der Menschen wohl nicht überlebt und nicht Bewohner der unwirtlichsten Klimazonen werden können. Doch Dinge sicherten nicht nur die Existenz. Zu ihrem materiellen Wert brachten sie dem Besitzer auch Ansehen in der Gemeinschaft und oft sogar Macht über andere. So hat unsere Orientiertheit am Haben also tiefe Wurzeln.

Man könnte über diesen menschlichen Wesenszug lächeln, würde heute nicht irreparabler Schaden dadurch entstehen, nicht nur für den einzelnen, sondern für die Gemeinschaft, ja für das gesamte Leben, auch das zukünftige.

Nun habe ich für mich aber in zunehmenden Maß andere Quellen von Glück entdeckt, die den Vorteil haben wenig oder nichts zu kosten.

Ich lernte mein Heil nicht in der blinden Anhäufung von Dingen zu sehen, sondern aus einem Minimum an ihnen ein Maximum an Freude zu gewinnen. Ich nenne dies "lustvolle Mäßigkeit".

Wohlgemerkt, kein Verzicht auf das Zuträgliche und Nötige, schon gar keine Askese, sondern das für den Menschen vernünftige Maß für ein gesundes und lustvolles Leben.

2.

Wer nur die Not kennt, ist hier keine Hilfe. Er wird zu kriegen und zu horten versuchen, was immer möglich. Das Zuträgliche und Nötige auswählen kann alleine, wer über die Mittel auszuwählen verfügt. So waren es die Erfahrungen des Überflusses, der Völlerei, der allgemeinen Reizüberflutung, die mich zur Einschränkung in vielen Bereichen veranlaßten.

Irgendwann in meinem dreißigsten Jahr wurde mir bewußt, daß mein Wohlbefinden nicht von der Menge angebotener Reize und Dinge abhängt.

Da ich aber in einer Gesellschaft lebte, in der Besitz und mengenmäßiger Konsum von Waren als Maßstab für Glück gilt, wurden meine Bemühungen die eingeübten Verhaltensmuster zu prüfen und neu zu regeln, auch von sonst gutmeinenden Freunden, als Art "philosophisch-verbrämte Sparsamkeit" belächelt.

Welche Erfahrungen haben mich nun genügsamer gemacht? Ich möchte es an einem Salatkopf verdeutlichen. A erntet einen Salatkopf aus seinem Garten. Er bereitet ihn geschmackvoll zu und erfreut sich seiner Arbeit. Während er genußvoll seinen Salat - vielleicht mit einem Stück Brot oder einer Schale Reis verzehrt - erinnert er sich daran, wie er den Salat gesät, gegossen, verzogen, gedüngt und gepflegt hat, denkt an manchen sonnigen oder verregneten Tag und an manche andere Einzelheit.

B ißt einen Salatkopf aus dem Kaufhaus. Er hat zu diesem keine besondere Beziehung, es ist ihm nur ein fremderzeugter, vielleicht mit üblen Mitteln aufgezogener Salatkopf, der bezahlt worden ist. (Vielleicht mit Geld, dessen Erwerb unangenehme Erinnerungen weckt.)

Selbst wenn B nun dazu eine Schale Reis genügen würde, empfindet er beim Verzehr nur einen Bruchteil der Lust von A. (Von der geschmacklich schlechteren Qualität der Kaufhausware wollen wir hier nun gar nicht sprechen).

Über den Lustgewinn beim Verzehr einer Nahrung entscheidet also offensichtlich nicht der meßbare Wert der Dinge an sich, sondern die Einstellung, die damit verbunden ist.

Ich erkannte, daß Lust eine Sache des Kopfes ist, eine Sache des Bewußtseins also.

Und ich merkte, daß Lust nicht mit der Menge einer Sache zu tun hat (das notwendige Quantum vorausgesetzt), und daß die herrlichsten Dinge durch ein Überangebot inflationiert werden, ihr wirklicher Wert also mit zunehmender Menge sogar abnimmt.

Wer sich dauernd mit Leckerbissen vollstopft, macht sich ärmer, bringt sich selbst um den Genuß. Er gewöhnt sich an die raffiniertesten Dinge und es gibt für ihn schnell keine kulinarischen Höhepunkte mehr, so daß die persönliche "Glücksempfindungsschwelle" mit Reiz- und Genußmittel schädlichster Art zu erreichen versucht wird.

Beispiele.

Durch Dauerberieselung wird die schönste Musik zur Geräuschkulisse, das musikalische Empfinden abgestumpft, ja vielleicht sogar das Hören an sich.

Früher gab es in meiner Familie aus wirtschaftlichen Gründen nur zu Weihnachten Bratwürste, auf die wir uns das ganze Jahr gefreut haben. Heute, wo Bratwürste zur gewöhnlichen Speise geworden sind, erzeugt ihr Verzehr keine besonderen Glücksgefühle mehr.

Bei Vegetabilien ist es nicht anders. Wer sich das Jahr über importierte Erdbeeren, Tomaten, Südfrüchte usw. leistet, wird sie zu ihrer natürlichen Saison nicht mehr schätzen, er bringt sich um den Genuß.

Besonders eindringlich empfand ich dieses Prinzip infolge einer Krankheit.

Aus lange Zeit ungeklärtem Grund verlor ich über Jahre mein Geruchsempfinden. Von kurzen Intervallen abgesehen, roch ich überhaupt nichts. Wenn nun aber mein Geruchssinn für Minuten oder Stunden wiederkehrte, erlebte ich eine unbeschreibliche Lust an den alltäglichsten Gerüchen. Selbst der Verzehr einfachster Nahrung brachte mir unerhörten Genuß.

Als sich - nachdem ich das Rauchen aufhörte - mein Geruchssinn auf Dauer wieder einstellte, verfiel ich aber bald in die frühere Gleichgültigkeit gegenüber der einfachen Speisen. Wie man es von Süchtigen her kennt, versuchte ich durch raffinierte Zubereitungsarten und durch Steigerung der Menge neue Geschmacksufer zu erreichen. Was soll ich sagen, es endete wie bei den Bratwürsten.

Der Mensch scheint offensichtlich dazu verdammt zu sein, alle Fehler immer wieder neu machen zu müssen und wird erst durch Schaden klug. Erst wer nichts mehr riecht, weiß was er verloren hat. Keiner kennt den Wert der Beine mehr, als derjenige, der gehunfähig im Rollstuhl sitzt. Was würde der Erblindete für seine Sehkraft geben!

Diese Dialektik scheint in allen Lebensbereichen zu gelten. Vermutlich werden wir den Wert von klarem Wasser, reiner Luft und giftfreien Lebensmitteln erst dann in mehrheitsfähigen Größenordnungen erkennen, wenn es sie nicht mehr gibt.

Fazit. Was uns angenehm ist, ist eine Sache des Erkennens, also eine des Bewußtseins und so immer das Ergebnis von Lernprozessen. Darum können und müssen wir lernen unsere Sinne bewußter einzusetzen und die gewohnheitsmäßigen Vorgaben kritisch zu überprüfen.

So ist es ein Gebot der Vernunft, sich auf einem niedrigen Verbrauchspegel einzupendeln, weil man nur so zu Steigerungen fähig ist.

Der Wert einer Sache steigt zudem mit dem Verständnis von ihr. Wer nichts von ihr weiß, wird sie vielleicht nicht einmal bemerken und an ihr gleichgültig vorbeigehen.

Wer beispielsweise die Pflanzen nicht kennt, wird durch die üppigste Flora tappen und sich nur langweilen. Anders der, der Gras und Kraut kennt, um ihre Entwicklung weiß, ihre Lebensbedingungen, ihren Wert für die Fauna, für Küche und Arzneischrank. Wer die Tiere nicht kennt, wird sich am Ende gar vor ihnen fürchten und kommt so um wunderbare Freuden. Wer auf Reisen geht und nichts über seine Route und die möglichen Entdeckungen an ihr weiß, wird sie verpassen, grad als wenn es sie nicht gäbe.

Auch wem nie Augen und Ohren für die Musik, die Malerei und Bildhauerei geöffnet wurden, ist ein armer Mensch. Die Auflistung ließe sich in alle Lebensbereiche fortsetzen.

Kein Genuß also ohne Erfahrung, Kenntnis und Bewußtheit. Das gilt auch für den Wert von Dingen. Solche, die mit persönlicher Lei­stung verbunden sind, etwa selbsterzeugte Nahrungsmittel, selbstgefertigte Gegenstände, selbstvermittelte Fertigkeiten bei anderen usw., finden sich im Kopf (wo Lust ja entsteht) in begleitende Erinnerungen eingebettet. Wobei auch solche ursprünglich mühevoller, ja sogar schmerzhafter Art, da überwunden und gemeistert, häufig sogar die meiste Freude vermitteln.

3.

Wieviel Dinge braucht der Mensch zu seinem Glück, zehn, hundert oder zehntausend?

Eine müßige Frage, denn Menschen können für alle Dinge ein Bedürfnis entwickeln, sich an den Gebrauch und Verbrauch von allem gewöhnen.

Der biologische Bedarf dagegen kann sehr wohl aufgezählt werden: Sauerstoff, Nahrung, Flüssigkeit, Schlaf, Wärme, Bewegung und - mit einer gewissen Sonderrolle - Sexualität.

Die Erfüllung dieser Bedürfnisse setzt von Anfang an den sorgenden Mitmenschen voraus, erst die Eltern, später einen weiteren Menschenkreis.

Der Mensch ist daher ein Gemeinschaftswesen, denn ohne schützende Fürsorge könnte er nicht existieren. Menschen brauchen nichts so sehr wie andere Menschen, ihre Liebe, ein gewisses Maß an Anerkennung, aber auch, daß die anderen sie brauchen, also die Gelegenheit sinnvoll für sich und die anderen tätig zu sein.

Fast seine ganze Entwicklungsgeschichte war der Mensch mit der Sorge um die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse beschäftigt. Diese Beschäftigung war durch ihre Notwendigkeit das Selbstverständlichste der Welt und unterschied sich nur durch seinen aktiven vorsorgenden Charakter, den Einsatz von Werkzeugen und wachsendes handwerkliches und technisches Geschick vom Tätigsein der Tiere. Wesentlich aber ist, daß diese Tätigkeit stets Werkzeug für die Bedarfsdeckung war.

Erst die Trennung dieser Verbindung durch die Entwicklung von arbeitsteiligen Gesellschaften wandelte den Charakter des menschlichen Tätigseins vollkommen.

Der Menschen Tätigkeit wurde zur entfremdeten Arbeit, zur Ware, zum Handelsgut auf den Märkten. Mit seiner Tätigkeit wurde auch der Mensch selber zur käuflichen Ware.

4.

Grob unterteilt habe ich bislang zwei Arten von Arbeit erfahren. Da war die Berufsarbeit in der Fabrik, der ich mich nur des Entgeltes wegen unterzog und die Tätigkeiten in meiner Freizeit.

Es war nicht der vergossene Schweiß, der den Unterschied machte, auch nicht ob es Hand- oder Kopfarbeit war.

Der Unterschied war alleine die Freiwilligkeit, die selbstgestellte Aufgabe, die Einsicht in ihre Notwendigkeit, der ursächliche Zusammenhang von Tätigkeit und Bedürfnisbefriedigung.

Ob ich nun mein Haus gebaut, meinen Garten bestellt, Lieder, Bilder und Texte geschaffen habe - niemals war mir dieses Schaffen etwas Fremdes. Auch wenn ich nicht immer die Muße fand den Arbeitsprozeß als solches zu genießen, weil die Notwendigkeit zum Fertigwerden drängte, so war nie eine Kluft zwischen mir und dem Produkt. Diese Arbeit war ich selber, mit ihr schaffte ich mich und mein Selbstwertgefühl.

Wer je das Glücksgefühl nach einer gelungenen selbstgestellten Arbeit erlebt hat, weiß, daß es nichts mit der Sattheit gemein hat, die bloßes Konsumieren hinterläßt.

Ich weiß deshalb, daß die Qualität unserer Arbeit der Schlüssel für ein lustvolles und maßvolles Leben ist. Wer sich in seinem Tätigsein wohl fühlt, braucht sein Glück nicht über den Umweg von Konsum und Besitz von Waren zu suchen.

Wenn man die im Warenüberfluß lebenden Menschen betrachtet, wie sie sich eine Sattheit nach der anderen kaufen, wie sie in ihren Benzinkutschen versuchen der inneren Leere und Ziellosigkeit davonzufahren, wie sie sich mit fremden Federn schmücken um Anerkennung zu finden und sei es in der Form von Neid, wie sie ihre Körper mit immer schärferen Dingen zu reizen versuchen - erkennt, daß sich die Menschen verrannt haben und ihr "way of life" nichts mit Lebensqualität zu tun hat.

Kürzlich habe ich einen Bericht über die Lebensumstände von über hundertjährigen Menschen gelesen, die in manchen Gegenden gehäuft leben.

Allen Befragten war gemeinsam, daß sie ein nach unseren Begriffen eher kärgliches, bewegungsreiches bäuerliches Leben lebten. Die Trennung ihrer Aktivitäten in Arbeit und Freizeit war ihnen unbekannt, ebensowenig ein Ruhestand im Sinn unseres Rentenalters.

Alle diese Methusalems lebten in Gemeinschaften, in denen sie auch im hohen Alter ihren Teil zum allgemeinen Wohlergehen beitragen können und in denen ihr Wort noch etwas galt.

Bei uns ist es bekanntlich anders. Funktionierende Gemeinschaf­ten sind immer seltener, die Vereinzelung nimmt immer mehr zu. Die Wirtschaft benötigt die mobile, heimatlose Kleinfamilie, deren Arbeitskraft überall eingesetzt werden kann. Die "noch-nicht-Ware", die inder, und die "nicht-mehr-Ware", die Alten, werden von ge­sonderten Institutionen betreut, damit sie nicht stören.

Doch auch die Arbeit als solche ist meist weder lustvoll noch geeignet Mäßigkeit zu erzeugen , im Gegenteil. Die wenigsten Menschen produzieren nützliche Güter, viele dagegen stellen Überflüssige her, immer mehr gefährliche und schädliche. Der Rest verwaltet, betreut und bewacht dieses unvernünftige System. Und alle suchen ihr Glück außerhalb ihres bezahlten Tätigseins.

5.

Ich habe nirgends behauptet, daß nur Arbeit glücklich macht. Doch wenn ich nun ein Lob auf die Beschaulichkeit und das Pausieren anstimme, dann bitte ich doch zu bedenken, daß ihr Wert durch das vorangegangene Tätigsein bestimmt ist. Wer nur faulenzt wird müde (faulenzen macht viel müder als arbeiten!) oder er langweilt sich zu Tode. Beides ist nur begrenzt lustvoll.

Am Schönsten fand ich immer das Ruhen nach dem angestrengten Tätigsein, das zufriedene Betrachten des Geschaffenen, das Planen des Weiteren. Ich lege das Werkzeug oft weg und trete von der Arbeit ein paar Schritte zurück. Einmal wohl, weil ich ein Genießer bin und den Arbeitsfortgang des Werdenden vollständig auskosten will, zum Zweiten, weil in diesem scheinbaren Untätigsein das Eigentliche passiert, der schöpferische Vorgang im Kopf. Auch dafür gibt es nichts Entsprechendes in den Kaufhäusern...

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Manifest von 1983

1.

Das Leben ist Gabe, genieße es. Das Leben ist auch Aufgabe, drum entwickle deine Fähigkeiten und wirke zum eigenen und fremden Nutzen.

 

2.

Begegne allen Geschöpfen so, wie du möchtest, dass man dir begegnet. Bedenke deine Natur und deine Angewiesenheit auf alles Lebendige und lass alles leben nach seiner Art. Freue dich über die Verschiedenheit der Menschen und ihrer Kulturen!

 

3.

Dir steht zu, was du benötigst. Alles was darüber hinausgeht bringt dir wenig Nutzen und vermehrt dein Glück nicht.

 

4.

Nach eigenem Bedürfnis zu denken und zu handeln, ist natürliches Recht. Unrecht ist, anderen zu schaden oder zu schweigen, wenn andere anderen schaden. Denn wer soll den Menschen zurechtweisen, wenn nicht der Mensch?

 

5.

Übe den Körper für den Geist und übe den Geist für den Körper.

 

6.

Setze dir wenig ferne Ziele und viele nahe. Gewöhne dich an steinige Wege, denn diese sind das Normale. Bevor du deine Kraft an Hindernissen vergeudest, versuche sie zu umgehen.

 

7.

Kehre um, wenn sich dein Weg als Irrweg herausstellt!